BAUMFIGUREN - page 20

Thérèse Nylén
Ein Wald aus Persönlichkeiten
Draussen die üblichen Geräusche einer kleinen Stadt; des Verkehrs, der Pas-
santen und des Flusses, der neben dem Atelier Alfons Bürglers vorbeifliesst.
Alfons macht die Tür zum Atelier auf und lässt mich ein.
Mir begegnet eine merkwürdige Sammlung knochiger Gestalten, die auf
den ersten Blick zusammengeflochten scheinen. Es kommt mir vor, als wur-
den sie in dem Moment reglos, als die Tür aufging, und als ob sie sich wie-
der bewegen würden, sobald ich sie allein lasse. Mit abgeschnittenen Glie-
dern wirken sie verstümmelt. Ich habe aber den Eindruck, dass sie trotzdem
von Bewegungsdrang dermassen geladen sind, dass sie in jedem Moment
durch das Atelier rasen würden, wäre ich nicht anwesend.
Alfons macht die Tür zu und lässt mich in der Stille alleine mit den Ge-
genständen. Langsam folge ich dem Pfad, der zwischen ihnen führt. Die
Komplexität der Muster, die aus den vielen Gliedern dieser Gestalten ent-
stehen und die Kombination der Aufstellungen, bewirken ständige Wahr-
nehmungsverschiebungen, je nach Standpunkt des Zuschauers.
Die einzelnen Figuren vermögen einen Eindruck von Bewegung aufkom-
men lassen. Zu dieser Bewegung fügt sich jene weitere Ebene hinzu, wel-
che die ganze Installation umfasst und erst denn bemerkbar wird, wenn ich
mich selber in Bewegung setze und mich auf den Weg inmitten der kno-
chigen Versammlungen mache. Es fällt mir auf, dass ich hiermit zu einem
unverzichtbaren Teil der Installation werde und dass ich auf diese Weise
Zugang finden kann.
Ich fange damit an, die einzelnen Gestalten genauer anzuschauen. Was
mir zuerst als homogen vorkam, ist jetzt nicht mehr so. Die weisse Far-
be, womit die Figuren bestrichen sind, mag zuerst deckend und glatt wir-
ken, ist auf einigen – bei genauerer Betrachtung – jedoch groblöcherig
und schroff. Bei weiterer Ansicht deuten die meisten Gestalten auf ein
bestimmtes Geschlecht hin und nehmen zum Teil auch Posen ein, die ich
gewohnheitsgemäss mit diesem assoziiere: So deute ich einen kurzen,
waagerecht ausgerichteten Zweig in der Mitte der Gestalt, zusammen mit
deren breitbeinigen Körperhaltung, als einen Hinweis auf Männlichkeit.
Rundungen auf dreiviertel Höhe, zusammen mit einer geschwenkten Hal-
tung als Weiblichkeit.
Durch diese Deutung bekommt die Installation eine theatralische Quali-
tät, und indem die Gestalten Personenzüge annehmen, stehen sie plötzlich
in Beziehung zueinander. Obwohl ich nichts Weiteres erfahre, setzt jetzt
meine Fantasie ein und fängt an, einen Schleier aus Geschichten über die
Installation zu verbreiten:
Diese zerbrechliche Schöpfung in der Ecke, die sich gegen die Hintertür
lehnt und unbeholfen beide Arme von sich reicht, als ob sie von mir nach
etwas verlangen würde. Die Gestalt, die mit einem grossen Schritt und Ziel-
strebigkeit Fragen weckt: Wohin eilt sie? Was sieht sie vor sich und was
zieht sie so an?
Einige streben auseinander, andere stehen stillschweigend und dicht an-
einander; ein Dritter sieht so aus, als würde er gerade zu einem rockigen
Beat abtanzen. Einige möchten gerade etwas Wichtiges sagen, andere zö-
gern mit den Worten; eine Dritte ruft aus.
Ein Wald aus Persönlichkeiten, die Teil der Natur waren und jetzt eine Ins-
tallation sind: Sie sind tote Stämme, weiss angemalt und aufgerichtet, als
ob sie in einer neuen Lebensform umgewandelt wären. Eine Form, die das
Menschsein inszeniert, jedoch ohne das Geheimnisvolle der Natur verraten
zu können.
Thérèse Nylén
, geboren 1976 in Malmö, Schweden. 1997–2001 Studium Modern Dance an der
HVK (Hogeschool voor de Kunsten) in Amsterdam NL. Zwischen 2001–06 tanzte sie unter ande-
rem für die ChoreographInnen Martin Butler (NL), Suzanne Marx (NL), Désirée Délaunay (NL)
und Kyle Bukhari (CH). Ab 2002 lebt sie in Luzern CH, wo sie Solotanzprojekte in Zusammenar-
beit mit Musikern und Künstlern schafft. 2005 Residenzstipenium im NAIRS Kulturzentrum Scuol
CH. 2007 Werkbeitrag «Tanz» von Stadt und Kanton Luzern. Aktuell lebt Thérèse Nylen in Berlin
und besucht dort den Master-Studiengang Solo/Dance/Authorship an der UdK (Universität der
Künste).
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