BAUMFIGUREN - page 10

teln Geborgenheit. Ist es mein Atem der ihnen Leben einhaucht? Ja, komm,
lass uns tanzen und dann lausche und sinniere, über das was du siehst.
Bei genauerem Hinsehen wirken sie auf einmal wie der Spiegel meiner
selbst. Neugierig fordern sie mich zum Zuhören und Hinsehen heraus. Also
setze ich meinen Tanz fort. Bleibe ich stehen, wenden sie sich wieder ganz
ihren eigenen Begegnungen zu und Ilse wacht über ihr Tun und Lassen.
Wie wenig es doch braucht, um auf zwei Füssen stehen zu können. Ich be-
trachte meine eigenen Füsse. Stelle fest, dass ich mehr brauche. Alle starren
sie nun auf die meinen, wie ich leicht beschämt feststelle. Ist da ein Lächeln
in der Luft? Nein, sie brauchen nicht so viel, um Halt auf dem Boden zu
finden. Ich erwidere ihr Schmunzeln. Mein Ausdruck gibt ihnen für einen
Augenblick ihre eigene Welt zurück. Wer ist eigentlich der Dünne mit der
Hühnerbrust, der sich von der Schönen mit den langen Beinen einnehmen
lässt? Ilse bittet mich, Hermann doch mit einem Rat zur Seite zu stehen,
weil ich mich in diesen Angelegenheiten besser auskenne. Wie kommt sie
denn darauf? Nur weil ich mehr Bodenhaltung habe? Ja, Hermann, greif
zu, die Schöne ist wie für dich bestimmt. Ermuntert macht er einen Schritt
zur Schönen hin.
Eine Schar Kinder ist unvermittelt zur Stelle. Vorerst in ihr eigenes Spiel
von Ausgrenzung einerseits und Zusammengehörigkeit anderseits vertieft.
Eine Mutter versucht mit Nachdruck einzugreifen. Hermann erweckt unge-
wollt ihre Aufmerksamkeit. Die Szene fordert ihn heraus. Er will sich keine
Blösse geben, wendet sich ihnen zu. Kenne ich dieses Spiel der Gefühle und
Befindlichkeiten im Wald meiner Welt nicht auch? Rückzug um Aufmerk-
samkeit zu erlangen? Ilse scheint meine Gedanken zu lesen. Keine Angst,
er wird den Weg zur Schönheit hin schon finden, wenn es die Bestimmung
will. Warum hat sie von mir einen Rat erbeten, wenn sie doch die Antwort
schon kennt? Um zu testen, ob ich wirklich hinschaue?
Auch wenn alles in diesem Raum verlangsamt scheint, folgt Szene auf Sze-
ne, Bild auf Bild, Eindruck auf Eindruck. Ein kräftiger schöner Mann mit
Prisca Anderhub
Besuch im Dezember
Die Kälte, die mir beim Öffnen der Türe entgegenschlägt, zwingt mich
die Augen zu schliessen, geht mir durch Mark und Bein. Ich fühle, wie der
Dampf des Ausatmens unmittelbar in der Luft zu gefrieren scheint. Erst das
laute ins Schloss fallen der Tür zwingt mich, die Augen wieder zu öffnen.
Mit unbeweglich, überrascht neugierigem Antlitz starrt mich eine eigen-
tümliche Menschenmenge an. Kein Ort zum Verweilen! Oder doch? Die
Ausstrahlung der mir Gegenüberstehenden ist freundlich, mit einer Bitte
im Ausdruck, doch zu bleiben und mich mit ihnen zu unterhalten. Die Aus-
strahlung ja, nur ihre Haltung dazu etwas unbeholfen.
Unbeabsichtigt stehe ich im Zentrum, von Argusaugen beobachtet. Über-
rascht mache ich einen kleinen Schritt rückwärts hin zur Tür. Und alle wen-
den sich fast unmerklich mir zu. Diese kleine, doch fordernde Bewegung
ihrerseits, vielleicht nur für mich sichtbar, lässt mich erneut innehalten. So
beginnt unser Spiel. Ich mache kleine Schritte seitwärts, vorwärts, und sie
wenden sich immer nur ganz leicht mir zu. Ein Spiel! Ein Tanz!
Ilse spricht mich als Erste an. Fordert mich mit sanftem Druck zum Blei-
ben heraus, zum Hinsehen. Schau dich um in diesem Wald! Schau genau
hin! Wenn du anfängst mit dem Herzen zu sehen, wird es für dich keinen
Grund mehr geben, der Kälte dieses Raumes zu entfliehen. Und tatsäch-
lich, mit der Entscheidung ihrer Forderung nachzukommen, weicht schon
in den ersten Augenblicken ein Teil der beissenden Kälte. Sie stehen nicht
starr da! Sie tummeln sich im Leben, diese beseelten Baummenschen. Sind
bereit mir Einblick in ihre Welt zu gewähren. Sie öffnen den Raum auf
zauberhafte Weise und lassen erst nur ein wenig Wärme aufsteigen. Selbst
Ilses runzlige Haut wirkt nun zarter, seidiger. Sie scheint der Ursprung allen
Verweilens in diesem Raum zu sein, zwingt jeden mit sanftem Druck zum
Bleiben. Da breiten sie die Arme aus. Ja, sie sind knorrig und doch sorgfäl-
tig beschwingt. Ich mag sie nicht gleich im ersten Augenblick, bin hin und
her gerissen, ob ich den Tanz fortsetzen soll. Sie scheinen meinen Zweispalt
zu spüren. Ihre ausgebreiteten Arme und ihre zwanglose Offenheit vermit-
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