BAUMFIGUREN - page 5

Elias Canettis nach wie vor hoch aktuelles Buch «Masse und Macht» (1980)
beginnt mit dem Satz «Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung
durch Unbekanntes». Canetti konstatiert: «Es ist die Masse allein, in der der
Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann.» Der Begriff der
Masse ist für ihn durch und durch negativ besetzt. Die Masse ist ein zerstö-
rerisches, aggressives Potential. Wehe, wenn sie losgelassen. Im allgemei-
nen Sprachgebrauch wird dem Begriff des Individuums oder des Individua-
listen jener des Massenmenschen entgegengesetzt. In der Bildenden Kunst
zeigt sich eine entsprechende Konnotation. (Wobei festgehalten sein muss,
dass das Thema der Masse – ausser im Sozialistischen Realismus – ohnehin
kaum ein Kunstthema geworden ist.)
Selbst kleine Ausschnitte aus der grossen städtischen Gesellschaft stellt
Alberto Giacometti als triste Situationen dar. Auf seiner 21 cm hohen Bron-
ze «La place» (1948–1949, Kunstmuseum Basel) treffen sich fünf Menschen,
ohne sich wirklich zu begegnen. Sie gehen an einander vorüber, bleiben
auch in dieser Nähe einander fremd, isoliert. Sie schreiten schweigend ge-
radeaus ins Leere, in einer Gangart, die es ihnen erlaubt, mit der wenigen
Energie, die sie haben, haushälterisch umzugehen; würden sie sich veraus-
gaben, drohte ihnen das Schicksal jener Figur, die Alberto Giacometti 1950
formt: «L’homme qui tombe».
Ein völlig anderes Menschenbild zeigt sich in den Werken von Alfons Bürg-
ler. Auch wenn er in seinen Bildern viele Menschen zusammenbringt, han-
delt es sich nie um eine Masse, sondern stets um eine Gemeinschaft. Und
die Einzelfigur ist nie ein morbides Wesen, sondern ein Energiebündel, das
seinem Kraftüberschuss Ausdruck gibt. Und das wohlverstanden nicht auf
aggressive Weise. Alfons Bürgler hat sich nie mit dem Wiener Psychologen
Alfred Adler (1870–1937) beschäftigt. Dennoch sei hier auf Adler verwie-
sen, zeigt sich doch hier wie dort das gleiche Grundvertrauen in die Ge-
meinschaftsfähigkeit des Menschen. Für Adler ist das Gemeinschaftsgefühl
eine angeborene Gabe, die es bewusst zu entwickeln gilt, und welche die
Peter Killer
Moveor ergo sum
Sind Künstler auch Lebenskünstler? Meine Tätigkeit bringt mich mit
vielen Künstlerinnen und Künstlern ins Gespräch und zeigt mir, dass sie
nicht gelassener über den Dingen stehen als andere Zeitgenossen, dass sie
zum unbeschwerten «Carpe diem» nicht viel befähigter sind. Aber es gibt
Ausnahmen, etwa den 1936 geborenen Schwyzer Alfons Bürgler. Ein Be-
such in seinen Arbeitsräumen, ihm zu begegnen und mit ihm zu reden
ist ein vitalisierendes Erlebnis, das einen in ein Kraftfeld von Lebens- und
Gestaltungsfreude versetzt. Der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar
bezeichnete den Lebenskünstler als einen, der «seinen Sommer so erlebt,
dass er ihm noch den Winter wärmt». Die Ausstrahlung der Person und der
Werke von Alfons Bürgler wecken in mir den Eindruck, da schaffe es einer,
den Herbst des Lebens zum Sommer zu machen.
In einem Mail, nach dem Besuch abgesandt, schrieb mir Alfons Bürgler:
«Du hast gestern mal das Wort ‹Lebensfreude› erwähnt. Es stimmt, je älter
ich werde, umso besser geht es mir.»
Der Kunstpädagoge Walter Hintermann hat über Alfons Bürglers Kunst
ausgezeichnete und aufschlussreiche Texte geschrieben, die in älteren Pub-
likationen nachzulesen sind. Nur gestreift sind dort die inhaltlichen Aspek-
te, zu denen ich noch ein paar Gedanken anfügen möchte.
Seit den späten Neunzigerjahren verfolgt der Maler und Zeichner vor allem
andern das Thema der aufgereihten, übereinander gereihten Figuren. Es
gibt Arbeiten, auf denen ich mehr als tausend Menschlein gezählt habe.
Wenn Menschen im Alltag in einer solchen Vielzahl auftreten, dann redet
man von einer Menge oder einer Masse. Menschenmengen treten übli-
cherweise ungeordnet in Erscheinung, es sei denn Sitzreihen würden ihnen
eine Ordnung aufzwingen oder die Organisatoren von Umzügen, Paraden
oder Defilees wären um die strikte Ausrichtung besorgt. Mit alldem ha-
ben die Figuren von Alfons Bürgler nichts gemein, auch wenn sie ebenfalls
meist aufgereiht erscheinen.
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