BAUMFIGUREN - page 7

ner Säge, aus Bäumchen und Bäumen in Hecken und an Waldrändern, wo
ohnehin abgeholzt oder ausgelichtet hätte werden müssen. Also dürfen
wir diese Werke, auch wenn sie mit Bildhauerei nichts zu tun haben, mit
gutem Grund als Skulpturen bezeichnen.
In Hauterives, eine Autostunde südöstlich von Lyon, hat ein französischer
Landbriefträger – ohne jegliche künstlerische Vorbildung – in den Jahren
1879–1912 an seinem «Palais idéal» gearbeitet. Der Ausgangspunkt: ein
Stein, über den er auf einem Postgang gestolpert war. Er schaute sich den
Stein genauer an: Wenn die Natur solch wunderbare Formen hervorbringe,
dann wolle er der Maurer sein, der sie inszenieren würde, sagte er sich.
Abertausende von grossen und kleinen Steinen hat er gesammelt und mit
ihnen eine begehbare Riesenplastik geschaffen. Behauen hat er keine Stei-
ne, aber sie insofern transformiert, als er sie mit Hilfe von Zement in Figu-
ren verwandelte oder sie zu Ornamenten arrangierte. Der initiale, kreative
Akt war stets das Sehen, das Entdecken der Steine. Dasselbe gilt für Alfons
Bürgler. Er sucht gezielt die Baumverästelungen nach Formen ab, die er –
um 180 Grad gedreht – zu Figuren umwandeln kann.
Da die Natur andere Zwecke verfolgt, als Zweibeiner hervorzubringen, aus
der Alfons Bürgler eine Installation aufbauen kann, muss der Künstler im
Gewirr der Äste seine Formen herausabstrahieren. «Seine» Formen: Nicht
jede Verästelung kann er sich aneignen. Häufig entsprechen die Propor-
tionen zwischen Beinen und Rumpf nicht eigenen Vorstellungen. Findet
er, was er sucht, dann bittet er den Baumbesitzer um Fällerlaubnis. Das
eigentliche «sculpere», das Absägen jener Äste, die nicht zu «seiner» Form
gehören, ist im kreativen Prozess zwar nicht unwichtig, aber weit weniger
bedeutsam als das Entdecken der Formen.
Diese Figuren sind ein Gemeinschaftswerk des Plastikers namens Natur und
des Skulpteurs Bürgler. Das könnte an sich über jedes gehauene dreidimen-
sionale Kunstwerk gesagt werden, bei dem ein natürlicher Werkstoff ver-
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