BAUMFIGUREN - page 6

er lebe was er malt. Ich spüre zwischen ihm und den andern Dorfbewoh-
nern gegenseitigen Respekt. Ausser beschränkten materiellen Freiheiten
scheint ihn in seinem Leben und Schaffen nichts mehr zu behindern.
Neben den stilisierten Menschenfiguren kommen auf den neuen Bildern
aber ab und zu auch andere Zeichen und Symbole vor. Kreise können die
Sonne symbolisieren, die Erde, das Rad, das Viereck und Rechteck das Haus,
die schützende Abgrenzung, den Innenraum. Diese weiteren Bildelemente
relativieren das oben Gesagte in keiner Weise, denn auch solche Symbole
versinnbildlichen positive Werte.
Es kommt auch vor, dass sich die Zeichen verselbstständigen, zu blossen
«Schrift»-Rhythmen werden. Wenn dies geschieht, fällt es dem Betrach-
ter kaum – oder zumindest nicht störend – auf, ist doch der ausgeprägte
Rhythmus ohnehin stets das tragende formale Element der Zeichnungen
und Bilder Bürglers. (Dazu passt seine Mitteilung, dass er aktives Mitglied
eines Tanzklubs sei.)
Nicht um seine Bilder anzuschauen, von denen ich schon viele kannte, hat
mich Alfons Bürgler im August 2007 nach Steinen eingeladen, sondern um
mir seine Installation zu zeigen, die er in einer ehemaligen Destillerie auf-
zubauen in Begriff ist.
Welche Überraschung! Riesige Astkobolde füllen den Raum. Obwohl die
Figuren fest fixiert sind, scheint sich da ein Tanzfest zu ereignen – die einen
wiegen und biegen sich, die andern stolzieren herum oder beobachten in
gelassener Ruhe, was sich da abspielt.
Der Begriff Skulptur kommt vom lateinischen «sculpere» her – was so viel
bedeutet wie «meisseln, schnitzen, herausschneiden». Einen Stechbeitel
oder ein Schnitzmesser hat Alfons Bürgler allerdings nicht gebraucht, um
diese Figuren zu schaffen. Aber herausgeschnitten hat er sie, mit Hilfe ei-
wichtigste Persönlichkeitseigenschaft ist. Das Gemeinschaftsgefühl gehört
zu den zentralen Begriffen der Adler‘schen Lehre, und es stellt den Grad-
messer für die seelische Gesundheit von Individuum und Gesellschaft dar.
«Im Begriff ‹Mensch› liegt bereits unser ganzes Verständnis für das Gemein-
schaftsgefühl, wir könnten einen Menschen, der es verloren hätte und den-
noch als Mensch bezeichnet werden sollte, nicht vorstellen. Auch in der
Geschichte finden wir isoliert lebende Menschen nicht. Wo immer Men-
schen angetroffen wurden, fand man sie in Gruppen vor, wenn die einzel-
nen Menschen nicht etwa künstlich oder durch Wahnsinn voneinander ge-
trennt waren.» (Adler, 1926). Auch für Alfons Bürgler steht ausser Zweifel,
dass der Einzelne den Andern zu seiner Entfaltung braucht. Der Mensch ist
ein gesellschaftliches Wesen; nur innerhalb eines sozialen Gefüges kann er
seine Persönlichkeit entwickeln.
Die Figuren, die der Künstler auf immer neue Weise, sich keinem techni-
schen Experiment verschliessend, malt und zeichnet, sind nie reglos. (Zeich-
nung und Malerei verschmelzen übrigens häufig, indem er in die nasse
Farbe hinein zeichnet.) Sie gestikulieren, tanzen, springen – und bei allem
Übermut kommen sie sich nicht in die Quere! In dieser Gemeinschaft, in der
sie sich befinden, ist gut sein. Allerdings sind die Freiheiten, die sie sichtlich
geniessen, nicht grenzenlos. Sie dürfen nicht völlig aus der Reihe tanzen.
Die Reihenstruktur, die Alfons Bürgler immer wieder wählt, scheint mir
gleichsam ein Bild für das zu sein, was die Philosophie als «Goldene Regel»
bezeichnet, die in mannigfaltigen Variationen Grundbestandteil der ethi-
schen Vorstellungen vieler Religionen ist und die als volkstümliche Spruch-
weisheit so lautet: «Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg‘ auch kei-
nem andern zu.» Ein gewisses Regelwerk akzeptierend, ist dem Individuum
eine grosse Freiheit möglich, besagen Bürglers Bilder.
Eine soziale Utopie? Wunschträume? Wolkenkuckucksheime? Alfons Bürg-
ler beim Gang durch «sein» Dorf Steinen begleitend, habe ich das Gefühl,
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