BAUMFIGUREN - page 8

wendet wird. Aber nur ganz selten wird dem Gewachsenen, dem Vorgege-
benen so viel Respekt entgegengebracht. Hier äussert sich eine geradezu
demütige Ehrfurcht vor der Natur.
Seit Marcel Duchamps «Roue de bicyclette» haben unzählige Künstlerinnen
und Künstler mit Objets trouvés gearbeitet, mit von der Natur oder von an-
dern Menschen gestaltetem Material, es tel quel oder transformiert zum
Kunstwerk erklärt. Alfons Bürglers Astfiguren sind Objets trouvés transfor-
més. Die Bearbeitung der einzelnen Werke endet mit dem Bemalen. Bei
meinem Besuch waren ausser jenen, die er unbemalt belassen hatte, alle
weiss lackiert.
Durch die weisse Lackierung können verschiedene Gefühle und Erlebnis-
se ausgelöst werden. Weiss verleiht dem Holz etwas Klinisch-Aseptisches,
macht Natur in besonderem Mass zum Artefakt. Das Weiss der Figuren lässt
aber auch an liebenswerte Gespenster, Elfen und Feen denken.
Dass Alfons Bürglers Figuren gesichtslos sind, ist mir beim ersten Betrach-
ten gar nicht aufgefallen. Kopflos, geköpft wirken sie auf mich nie. Dass
ich das vorerst übersehen habe, beruht vermutlich auf einer Déformation
professionnelle. Denn zahllos sind die Künstlerinnen und Künstler im 20.
Jahrhundert, die im Zug der Abstrahierung des Gesehenen, des Darge-
stellten darauf verzichtet haben, die Gesichter auszuarbeiten. Wieso aufs
Gesicht verzichtet werden kann, hat der greise Henri Matisse in einem Ge-
spräch mit Georges Charbonnier 1951 beantwortet. Charbonnier fragte:
«Eine letzte Frage, wirklich die letzte: Was hat es zu bedeuten, dass im
Œuvre einer großen Anzahl von zeitgenössischen Malern das menschliche
Gesicht anonym wird?» – Matisse antwortete: «Sagen Sie das in Bezug auf
mich? Weil ich meinen Figuren manchmal keine Augen mache, oder keinen
Mund? ... Das kommt daher, dass das Gesicht anonym ist. Weil der Ausdruck
im ganzen Bild liegt. Die Arme, die Beine, alles das sind lauter Linien, die
agieren, wie in einem Orchester ein Register, Bewegungen, verschiedene
Nuancen. Wenn man Augen, eine Nase, einen Mund setzt, nützt das nicht
viel, im Gegenteil, es lähmt die Phantasie des Betrachters und verpflichtet
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